Stranger Than Usual

Warum wird „woke“ eigentlich herabwertend genutzt?

Ich möchte mal über zwei Sachen schreiben. Die erste davon hängt mir schon länger im Kopf herum, die zweite ist erst kürzlich aufgeschlagen.

Der Begriff „woke“ stammt laut Wikipedia aus den USA und bedeutet meines Verständnisses nach in etwa, aufmerksam durch die Welt gehen, gesellschaftliche Misstände (Rassismus, Sexismus, Armut, etc) wahrnehmen und sie öffentlich bekannt machen.

Warum ZUR HÖLLE haben die Rechten (und mittlerweile nicht mehr nur die ganz Rechten, z.B. auch die CDU/CSU) es geschafft, das zu einem Schimpfwort zu machen? Ich verstehe das einfach nicht. Wie soll man denn die Dinge verbessern, wenn man nicht auf Misstände aufmerksam macht? Klar, man kann nicht von jeder Person verlangen, die Welt zu verbessern. Aber wenigstens sollte man doch nicht die Leute heruntermachen, die sich dafür abrackern, es doch zu tun.

Das ist also ein komplett positiver Begriff, der es irgendwie geschafft hat, von irgendwelchen Arschlöchern so verbogen zu werden, dass er als Schimpfwort genutzt werden kann. So ähnlich, wie der Begriff „Gutmensch“. Und damit komme ich zu der zweiten Sache.

Der Begriff „Nazi“ ist ja eigentlich komplett negativ besetzt. Die historischen Nazis waren eine mordende, Hass und Lügen verbreitende Bewegung. Wer sich heute als Nazi bezeichnet, steht gesellschaftlich (zu Recht) im Aus. Selbst die AfD will sich nicht als Nazis bezeichnen, weil sie wissen, dass das Wort extrem negativ belegt ist.

Bis jetzt. Vor ein paar Wochen hat nämlich ein Herr Simmel, der mehrere Edeka-Märkte betreibt, auf seiner Werbung im Logo seines Unternehmens die Statements „Für Demokratie. Gegen Nazis.“ untergebracht. Gegen „Für Demokratie“ kann man ja nichts sagen. Und „Gegen Nazis“ ist auch etwas absolut positives, weil wir ja gerade etabliert haben, dass „Nazi“ absolut negativ belegt ist.

Anscheinend identifizieren sich aber in Deutschland mittlerweile so viele Leute offen als Nazis, dass die sich auf den Schlips getreten fühlen und einen Shitstorm gegen Simmels Läden geführt haben, bis sich Herr Simmel genötigt fühlte, die Werbung wieder zurückzuziehen. Anscheinend wurden auch seine Angestellten bedroht, und da wollte er nichts riskieren. Ein AfD-Stadtrat hat sich angeblich sogar beklagt, dass Simmel Andersdenkende ausschließen würde.

NUR DASS ES SICH BEI DIESEN „ANDERSDENKENDEN“ HALT EXPLIZIT UM NAZIS HANDELT! Ihr wisst schon. Die, die einen der, wenn nicht den größten Genozid der Menschheitsgeschichte durchgeführt haben! Die… ich brauche eigentlich nicht aufzählen, was die alles verbrochen haben. Jede Person, die in Deutschland zur Schule geht, kriegt das beigebracht. Es gibt Gedenkstätten, regelmäßige Gedenkveranstaltungen, Museumsausstellungen, Stolpersteine… man kommt nicht darum herum. Und trotzdem gibt es genug Leute, die denken, dass es ihr gutes Recht ist, sich selbst offen als Nazi zu bezeichnen und damit keinen Gegenwind zu bekommen?

Das sind dann übrigens auch die Leute, die sich immer beklagen, dass wir diese Gedächtniskultur haben. Ich habe vor mittlerweile 16 Jahren, als einen der frühesten Posts in meinem Blog, geschrieben, warum dieses Erinnern wichtig ist. Und die aktuellen Ereignisse machen nur deutlich, dass das heute wichtiger ist als jemals zuvor.

Aber eigentlich wollte ich mich ja über die Begriffe beklagen: Warum zu Hölle leben wir in einer Welt, in der „Nazi“ nicht mehr universell als negativ betrachtet wird, „woke“ aber zum Schimpfwort geworden ist? Kann mir das mal jemand erklären?