Vor ein paar Tagen hatte ich ein Gespräch mit einer Bekannten. Da ging es u.a. um sinnvolle, evidenzbasierte Therapien. Aber, sagte die Bekannte, die nach eigenen Angaben auch nichts von Anthroposophie hält, wenn ich Heileurythmie nicht wenigstens in Betracht ziehe, würde ich mir eine Chance nehmen.
Diese Bekannte war mir früher schon einmal mit ihrer Haltung zu sogenannter Alternativmedizin wie z.B. Homöopathie aufgefallen. Zu einer Diskussion darüber war ich in diesem Moment nervlich nicht in der Lage, ich habe es aber nur teilweise geschafft, die Diskussion abzublocken. Jetzt muss ich einmal in Ruhe meine Argumente sammeln, damit ich geistig wieder mit dem Thema abschließen kann. Deswegen dieser Blogpost.
Evidenzbasierte Medizin
Die heutige Medizin arbeitet evidenzbasiert. Das bedeutet erst einmal: Wenn ein Medikament, eine Behandlung, ein Impfstoff oder was auch immer eingesetzt werden soll, muss vorher gezeigt werden, dass es auch wirklich funktioniert. Die Idee dahinter ist ganz einfach: Wenn es eine Wirkung hat, kann man sie irgendwie nachweisen. Wenn es keine Möglichkeit gibt, eine Wirkung nachzuweisen, dann muss man davon ausgehen, dass es keine Wirkung gibt. So wie das unsichtbare rosafarbene Einhorn oder Russels Teekanne. Wenn Menschen durch etwas geheilt werden können, kann man nachweisen, dass Menschen geheilt wurden.
In der Praxis ist so ein Nachweis natürlich schwieriger. Zum einen gibt es verschiedene Möglichkeiten, warum jemand sich von einer Krankheit erholt. Es kann natürlich das Medikament sein. Es kann auch sein, dass sich der Körper von selber erholt. Selbst bei schweren Krebserkrankungen gibt es vereinzelt Fälle, in denen die Erkrankung einfach verschwindet (nennt sich Spontanremission). Deswegen braucht man viele, viele Fälle, in denen man das Medikament testet, um eine Wirksamkeit statistisch festzustellen.
Wie macht man so einen Test? Grundsätzlich würde man in der Wissenschaft zwei Testgruppen nehmen, eine ohne Behandlung und eine mit Behandlung. Abgesehen von ethischen Problemen gibt es hier aber ein sehr praktisches Problem: den Placeboeffekt: Allein die Tatsache, dass jemand so tut als ob er jemanden behandle kann dazu führen, dass sich die behandelte Person danach besser führt. Also muss man die zu testende Methode in der Medizin nicht gegen die Abwesenheit einer Behandlung, sondern gegen eine Placebobehandlung durchführen, ohne den Patienten zu sagen, was sie gerade bekommen (Blindstudie). Nur, wenn die Methode über den Placeboeffekt hinaus wirkt, kann man behaupten, dass die Methode wirklich wirksamm ist.
Die Probleme hören da nicht auf. Schließlich sind Wissenschaftler_innen und Ärzt_innen auch nur Menschen, und Menschen sind sehr gut darin, sich selbst hereinzulegen. Also macht man üblicherweise Doppelblindstudien, also weder Patient noch Arzt wissen, ob gerade ein echtes Medikament verabreicht wird. So werden die Beobachtungen der Ärztin nicht von eventueller Voreingenommenheit für oder gegen die Behandlung beeinflusst.
Das ist erst der Anfang, und in der Praxis ist das alles noch komplizierter. Wenn man in der Bewertung einer wissenschaftlichen Studie von „methodischen Mängeln“ liest, dann sind das oft irgendwelche Effekte, die dafür sorgen, dass die Vorgeingenommenheit der Wissenschaftler_innen (unbewusst) in das Ergebnis eingeflossen ist.
Der Begriff „Schulmedizin“
Evidenzbasierte Medizin wird oft als „Schulmedizin“ bezeichnet. Der Begriff tauchte in der deutschen Sprache laut Wikipedia zuerst im späten 19. Jahrhundert auf und wurde von Homöopathen als abwertender Begriff für naturwissenschaftlich- evidenzbasierte Medizin verwendet. Die Nazis griffen den Begriff später auf um ihn, wie die Nazis es gerne mal taten, in einem antisemitischen Kontext zu verwenden. Ihrer Ansicht nach war die Medizin „verjudet“ und solle durch „deutsche Medizin“ oder dergleichen ersetzt werden.
Bis heute wird der Begriff Schulmedizin hauptsächlich von den Anhängern sogenannter Alternativmedizin verwendet, um sich von ihr abzugrenzen.
Alternativen?
Der evidenzbasierten Medizin stehen unzählige Verfahren entgegen, die oft unter dem Begriff „Alternativmedizin“ zusammengefasst werden. Oft wird hier suggeriert, dass diese alternativen Verfahren viel sanfter und sicherer seien als die „Schulmedizin“, welche von „Big Pharma“ kontrolliert werde. Lustigerweise kann man das Wort „alternativ“ hier auch wirklich negativ interpretieren: Wenn der Kern der evidenzbasierten Medizin, die, nun ja, Evidenz, der Nachweis der Wirksamkeit ist, dann ist der Kern von Alternativmedizin, dass sie keinen Wirkungsnachweis hat.
Wisst ihr, wie man Alternativmedizin nennt, deren Wirksamkeit bewiesen wurde? Man nennt die Medizin.
Ich lesen dann oft jede Menge Ausglüchte, warum die Wirksamkeit nicht nachgewiesen werden kann, da wird dann von Erfahrungswerten gesprochen, ein beliebter Satz ist: „Bei mir hat es aber funktioniert!“. Auf solche Argumente gehe ich später noch einmal ein. Schauen wir und erst einmal ein paar gängige alternativmedizinische Lehren an.
Traditionelle chinesische Medizin
Traditionelle chinesische Medizin (TCM) ist ein Mischmasch aus verschiedenen historischen Behandlungsformen aus China (China ist groß und hat eine lange Geschichte). Unter Mao Zedong wurde sie dann ganz groß herausgebracht, irgendwo [citation needed] habe ich auch mal gelesen, dass das daran lag, weil es zu wenige echte Ärzte gab, um die Bevölkerung zu versorgen.
Die meisten Behandlungsmethoden davon haben keinen oder nur unzureichenden Wirksamkeitsnachweis. Es gibt das eine oder andere wirksame Mittel, das wissenschaftlich untersucht und deren aktive Bestandteile extrahiert werden konnten. Das ist jedoch kein Erfolg für die TCM, sondern für die evidenzbasierte Medizin.
Akkupunktur
Die Akkupunktur basiert, wie andere Teile der TCM auch, auf dem Konzept des Qi. Was das genau ist, ist recht kompliziert, aber die Akkupunktur basiert wohl darauf, mit Nadeln, die an bestimmten Stellen in die Haut gestochen werden, das Qi eines Menschen zu beeinflussen.
Lustigerweise konnten Studien keinen Unterschied zwischen den offiziellen Einstichpunkten und zufällig ausgewählten Einstichpunkten feststellen. Wenn ich es richtig verstanden habe gibt es aber abgesehen davon zumindest ein paar Erfolge in der Schmerztherapie. Das könnte aber auch einfach daran liegen, dass der Körper bei den Einstichen der Nadeln Endorphine zur Schmerzunterdrückung freisetzt.
Homöopathie
Die in Deutschland am weitesten verbreitete Alternativmedizin ist meines Wissens die Homöopathie. Die wurde Ende des 18. Jahrhunderts von Samuel Hahnemann begründet. Evidenzbasierte Medizin gab es damals praktisch nicht, und so war die Homöopathie damals tatsächlich wirksam, weil sie anstelle von Praktiken wie dem Aderlass durchgeführt wurde.
Die Homöopathie beruht auf zwei Annahmen:
- Eine Krankheit kann durch ein Mittel geheilt werden, das dieselben Symptome hervorruft wie die Krankheit
- je mehr man das Mittel verdünnt, desto stärker ist die Wirkung
Diese Kernannahmen alleine schon sollten disqualifizierend sein. Sie kommen nämlich praktisch aus dem Nichts. Heutzutage werden homöopathische Mittel oft so weit verdünnt, dass statistisch gesehen kein einziges Molekül des ursprünglichen Mittels mehr im Ergebnis sind. Da wird dann argumentiert, dass Wasser ein Gedächtnis habe und sich so an das Mittel erinnern könne. Spätestens da widerspricht das der Physik. Und auch dem sogenannten gesunden Menschenverstand (der, wie ich hinzufügen sollte, allerdings üblicherweise kein guter Ratgeber in der Wissenschaft ist und eher für alltägliche Situationen eingesetzt wrden sollte): Wieso kann sich das Wasser an das bisschen Quecksilber erinnern, hat aber den ganzen Kot vergessen, der irgendwann einmal mit ihm vermischt war?
Die Diskussion über den Wirkmechanismus geht aber eigentlich am Thema vorbei. Denn nur weil wir keine Erklärung dafür haben, wie es wirkt, heißt das ja noch nicht, dass es nicht wirkt. Und wirkt es?
Natürlich nicht. Homöopathie wirkt nicht über den Placeboeffekt hinaus.
Heileurythmie
Heileurythmie ist von Rudolf Steiner Rahmen seiner Anthroposophie erfunden worden. Steiner war Hellseher, und die Anthroposophie ist im Prinzip ein Sammelsurium seiner Lehren. Heileurythmie basiert auf dem Bild von Seele und Geist (oder Astralkörper oder so, ich stecke da nicht so tief drin) der Anthoposophie. Durch die richtigen rhytmischen Bewegungen soll das alles wieder ins Gleichgewicht gebracht werden oder so.
Studienlage ist auch hier: Kein Nachweis. Es gab Metastudien der Universität Witten-Herdecke. Das ist eine anthroposophische Uni, doch zur Ehrenrettung der beteiligten Wissenschaftler muss man sagen: Die haben sich davon nicht beeinflussen lassen, das Ergebnis war:
Indications, study designs and the usage of additional treatments within the identified studies were quite heterogeneous. Despite of this, EYT can be regarded as a potentially relevant add-on in a therapeutic concept, although its specific relevance remains to be clarified. Well performed controlled studies on this unique treatment are highly recommended.
Kurz: Spezifischen Wirksamkeitsnachweis gibt es nicht, Studienlage ist schlecht, aber vielleicht ist ja potentiell doch etwas dran.
Häufige Argumente für Alternativmedizin
Wie versprochen auch ein paar der häufigsten Argumente für Alternativmedizin, und warum sie Bullshit sind:
„Es hat keine Nebenwirkungen!“
Abgesehen davon, dass selbst Homöopathika vereinzelt Vergiftungen auslösen: Es ist natürlich leicht, keine Nebenwirkungen zu haben, wenn es auch keine Wirkung gibt. Was sich nicht auf den Körper auswirkt, kann sich auch nicht negativ auswirken. Die Nebenwirkung wäre höchstens, dass keine echte Therapie durchgeführt wird. Bei einer Erkältung: Kein Problem. Bei Krebs? Potentiell tödlich.
„Aber bei mir hat es doch funktioniert! Und bei meinem Hund!“
Entschuldigung, aber das ist kein Argument. Woher willst du wissen, dass die Krankheit nicht auch so vorbeigegangen wäre? Es kann einfach Zufall sein. Vielleicht auch der Placeboeffekt. Wir sind alle nur Menschen, und selbst solche Dinge wie Erinnerungen täuschen gerne. Vielleicht erinnerst du dich eher an die Fälle, in denen die Zuckerkugel mutmaßlich hat und vergisst die Fälle, in denen sie nichts gebracht hat? Das ist menschlich, so funktioniert unser Gehirn halt.
„Aber mein Heilpraktikant hört mir wengistens zu“
Auch kein Argument für Alternativmedizin, aber wir sollten umgekehrt unser Gesundheitssystem so anpassen, dass sich echte Ärzte auch Zeit für ihre Patienten nehmen können.
„Aber die Krankenkasse bezahlt es doch, also muss es wirksam sein“
Das kann auch politische oder Marketinggründe haben, weil z.B. Homöopathie so beliebt ist.
„Big Pharma will nur unser Geld und macht uns krank, um uns mehr Medikamente zu verkaufen“
Erst einmal ist das ein Verschwörungsmythos. Außerdem sind die Hersteller von Homöopathika auch „Big Pharma“.
Abschlussbemerkungen
In den letzten 150 Jahren hat sich die evidenzbasierte Medizin extrem weiterentwickelt. Wir können Diabetiker dauerhaft am Leben erhalten. Krebspatienten haben eine viel bessere Überlebenschance als früher. Selbst eine HIV-Infektion, die in meiner Kindheit noch als Todesurteil galt, kann mittlerweile so behandelt werden, dass AIDS fast vollständig verhindert wird. Und durch Imfpungen haben wir verdammt noch einmal die Pocken ausgerottet!
In derselben Zeit hat die Homöopathie (stellvertretend für andere Alternativmedizin, auf unterschiedlichen Zeitskalen) praktisch keine Fortschritte gemacht. Sie stagniert, das einzige, was mehr geworden ist sind die Studien, die ihre Wirksamkeit nicht beweisen können. Das, was der „Schulmedizin“ vorgeworfen wurde: Sie sei zu dogmatisch, zu unflexibel: Genau das ist die Homöopathie. Evidenzbasierte Medizin ist wissenschaftlich. Natürlich machen die Menschen da Fehler. Schlechte Studien, falsche Schlussfolgerungen, persönlicher Bias, der die Einführung einer besseren Therapie verzögert.
Aber der wissenschaftliche Hintergrund bedeutet eben, dass wir aus den Fehlern lernen können. Wenn die Wissenschaftler sagen: „Die Methode von vor 20 Jahren, die war schlecht, wir machen das jetzt anders“, dann bedeutet das nicht, dass die Wissenschaft nicht funktioniert, weil sie sich ja ständig umentscheidet. Es bedeutet im Gegenteil, dass sie funktioniert, weil sie auf der Basis neuer Evidenz ihre Meinung ändert.
PS: ich habe in diesem Artikel mit der Quellenarbeit ein bisschen geschludert, weil ich diesen Artikel endlich aus dem Kopf haben wollte. Deswegen einzelne Behauptungen von mir, die nicht mit einer Quelle versehen sind, gerne noch einmal überprüfen. Am großen Bild ändert das jedoch nichts.